Hildegard von Bingen

Hildegard von Bingen (1098–1179) war nicht nur eine bedeutende Mystikerin und Theologin, sondern auch eine außergewöhnliche Heilerin und Ärztin. Ihr medizinisches Wissen und ihre Heilkunst beruhten auf einer tiefen spirituellen Vision und einem umfassenden Wissen über Naturheilkunde, das sie in mehreren Werken niederlegte.
Grundlagen ihrer medizinischen Ansichten
Hildegard von Bingen verstand Gesundheit und Krankheit als das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels zwischen Körper, Geist und Seele. Für sie war der Mensch ein Mikrokosmos, dessen körperliche und geistige Gesundheit mit den kosmischen und spirituellen Kräften des Universums verbunden war. Sie betonte, dass der Mensch in einem harmonischen Zustand leben sollte, um gesund zu bleiben - eine Harmonie, die durch gute Ernährung, richtige Lebensführung und geistige Reinigung erreicht werden konnte.
Ihre Heilmethoden waren von einer holistischen Sichtweise geprägt, die sowohl physische als auch psychische Aspekte einbezog. Sie war der Ansicht, dass seelische Disharmonie oder Unausgewogenheit oft zu physischen Erkrankungen führen könne.
Die Werke von Hildegard zur Medizin
Hildegard von Bingen hinterließ zwei große Werke, die sich mit Heilkunst und Medizin befassten: "Physica" und "Causae et Curae". Beide Werke bieten umfassende Einsichten in die heilenden Eigenschaften von Pflanzen, Tieren und Mineralien sowie in die Behandlung von Krankheiten.

"Physica" ist ein Werk, in dem Hildegard mehr als 200 Pflanzen, Tiere und Mineralien beschreibt und deren heilende Eigenschaften detailliert darlegt. Sie erklärte, wie diese natürlichen Substanzen zur Heilung von Krankheiten verwendet werden konnten. Ihre Therapieansätze beinhalteten die Anwendung von Kräutern, Steinen und anderen natürlichen Heilmitteln.
- Pflanzenheilkunde: Hildegard war besonders bekannt für ihre Verwendung von Kräutern in der Heilkunst. Sie empfahl zum Beispiel das Kraut Salbei, das sie als Heilmittel gegen eine Vielzahl von Krankheiten wie Husten, Magenbeschwerden und Infektionen einsetzte. Ein weiteres Beispiel ist die Brennnessel, die sie zur Stärkung des Körpers und zur Behandlung von Hautkrankheiten empfahl.
- Heilmittel aus Tieren: im Buch beschreibt sie auch Anwendungen von Tieren, wie etwa das Fett von Bienen zur Wundheilung oder die Verwendung von Schlangen in der Heilkunde.
- Mineralien: auch Mineralien und Edelsteine wurden in der mittelalterlichen Heilkunst genutzt. Hildegard empfahl zum Beispiel die Anwendung von Bernstein, um das Wohlbefinden zu fördern und bestimmte körperliche Beschwerden zu lindern.

"Causae et Curae" ("Ursachen und Heilmittel") ist ein weiteres wichtiges Werk von Hildegard, in dem sie sich mit der Ursachenforschung und Behandlung von Krankheiten beschäftigt. Dieses Werk beschreibt detailliert, wie körperliche Erkrankungen durch eine Disharmonie zwischen Körper, Geist und Seele verursacht werden können und wie durch geistige und körperliche Heilmethoden wieder eine Balance hergestellt werden kann.
Sie ging davon aus, dass es drei Hauptursachen für Krankheiten gibt:
- Schlechte Ernährung und Lebensgewohnheiten: dies bezieht sich auf ungesunde Ernährung und mangelnde Bewegung.
- Seelische Disharmonie: Krankheiten können durch negative emotionale Zustände wie Angst, Wut oder Traurigkeit entstehen.
- Äußere Einflüsse: dazu gehören Umweltfaktoren wie Wetterbedingungen oder auch der Einfluss böser Geister.
Hildegard betonte die Bedeutung einer gesunden Lebensführung, die sowohl richtige Ernährung als auch ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arbeit, Ruhe und Gebet umfasst.
Ernährungslehre und Diätetik
Hildegard von Bingen legte großen Wert auf eine ausgewogene Ernährung. Sie glaubte, dass die Ernährung eine entscheidende Rolle für die Gesundheit spielt. Ihre Diätvorschriften basierten auf den Prinzipien von "Feuer", "Luft", "Wasser" und "Erde", den vier Elementen, die in der mittelalterlichen Naturphilosophie von großer Bedeutung waren. Sie betrachtete die Lebensmittel als eine Möglichkeit, den Körper mit den richtigen "Kräften" zu versorgen.
- Vollkornprodukte: Hildegard empfahl vor allem Vollkornprodukte wie Roggen, Gerste und Weizen. Diese wurden als Grundlage einer gesunden Ernährung angesehen, die den Körper mit "nahrhaften" Elementen versorgt.
- Milchprodukte: Hildegard war der Ansicht, dass Milchprodukte gesund und nützlich seien, wenn sie richtig zubereitet wurden. Besonders Käse und Butter spielte eine Rolle in ihrer Ernährungstherapie.
- Fleisch und Gewürze: sie empfahl, den Fleischkonsum zu begrenzen und auf Gewürze wie Ingwer, Zimt und Pfeffer zurückzugreifen, die sie für verdauungsfördernd und heilend hielt.
- Alkohol: Hildegard war ein Befürworter von Wein in Maßen, da er ihrer Ansicht nach das Herz und den Geist stärkte, aber sie warnte vor übermäßigem Konsum.

Therapeutische Methoden
Neben der Verwendung von Heilpflanzen und Diätetik setzte Hildegard auch andere therapeutische Methoden ein, um Krankheiten zu heilen oder zu lindern. Dazu gehörten:
- Heilbäder und Waschungen: Hildegard empfahl die Anwendung von Kräuterbädern zur Förderung der Gesundheit. Diese Bäder konnten je nach Bedarf entspannend oder anregend wirken.
- Blutvergießen und Aderlass: wie viele Mediziner ihrer Zeit setzte auch Hildegard Blutvergießen und Aderlass als therapeutische Methoden ein. Sie glaubte, dass das Ablassen von Blut den Körper entlasten und den Energiefluss wiederherstellen könne.
- Massagen und körperliche Übungen: Hildegard betonte die Bedeutung von Bewegung und körperlicher Aktivität, um den Körper in Balance zu halten.
Seelische und geistige Heilung
Hildegard von Bingen war überzeugt, dass geistige und emotionale Gesundheit genauso wichtig für das Wohlbefinden wie körperliche Gesundheit war. Sie glaubte, dass Krankheiten oft ihren Ursprung in seelischen Disharmonien haben und dass die Heilung des Geistes ebenso wichtig sei wie die Heilung des Körpers. Gebet, Meditation und mystische Praktiken spielten eine zentrale Rolle in ihrer Therapie.
Wirkung und Relevanz heute
Hildegards Wissen zur Heilkunst und Medizin hat in der modernen Zeit eine Wiederbelebung erfahren. Besonders ihre Kräuterkunde und ihre naturheilkundlichen Methoden werden heute von vielen als wertvolle Ressource angesehen, vor allem im Bereich der alternativen und komplementären Medizin. Ihre ganzheitliche Sichtweise auf Gesundheit und Krankheit findet zunehmend Anerkennung in der heutigen Gesundheitswissenschaft.
Hildegard von Bingen war eine außergewöhnliche Medizinerin, deren Wissen weit über ihre Zeit hinausreicht. Ihre holistische Herangehensweise an Heilkunst, die Körper, Geist und Seele in Einklang bringen wollte, ist auch heute noch von Bedeutung. Ihre Werke zur Medizin und Heilkunst bieten einen faszinierenden Einblick in die mittelalterliche Heiltradition und die Weisheit einer der bedeutendsten Frauen des Mittelalters.