Die Abschaffung der Gesundheit
Systematisch erfinden Pharma-Firmen und Ärzte neue Krankheiten. Darmrumoren, sexuelle Unlust oder Wechseljahre - mit subtilen Marketingtricks werden Phänomene des normalen Lebens als krankhaft dargestellt. Die Behandlung von Gesunden sichert das Wachstum der Medizinindustrie.
Anfang des 20. Jahrhunderts begann ein Arzt namens Knock damit, den Menschen die Gesundheit auszutreiben. Der Franzose schuf eine Welt, die nur noch Patienten kannte: "Jeder gesunde Mensch ist ein Kranker, der es noch nicht weiß."
Knock trat seinen Dienst in einem Bergdorf namens Saint-Maurice an. Die Einwohner waren wohlauf und gingen nicht zum Arzt. Der verarmte alte Landarzt versuchte seinen Nachfolger zu trösten und sagte: "Sie haben hier die beste Art von Kundschaft überhaupt: Man lässt Sie in Ruhe."
Doktor Knock war nicht gewillt, sich damit abzufinden.
Doch wie nur sollte der Neuling die vitalen Menschen in seine Praxis locken? Was nur sollte er den Gesunden verschreiben? Listig schmeichelt Knock dem Dorflehrer und bringt ihn dazu, den Einwohnern Vorträge über die Gefahren von Kleinstlebewesen zu halten. Er engagiert den Dorftrommler und lässt ihn ausrufen, der neue Doktor lade alle Bewohner zu einer kostenlosen Konsultation - um die "unheimliche Ausbreitung von Krankheiten aller Art einzudämmen, die seit einigen Jahren in unserer einstmals so gesunden Region um sich greifen".
Das Wartezimmer füllt sich. In den Sprechstunden diagnostiziert Knock sonderliche Symptome und bläut den unbedarften Dörflern ein, dass sie seiner ständigen Betreuung bedürfen. Viele hüten fortan das Bett und nehmen allenfalls noch Wasser zu sich. Am Ende gleicht das Dorf einem einzigen Hospital. Es bleiben nur so viele Menschen gesund, wie nötig sind, die Kranken zu pflegen. Der Apotheker wird ein reicher Mann; ebenso der Wirt, dessen Gasthof als Notlazarett allzeit ausgelastet ist.
Knock blickt abends begeistert auf ein Lichtermeer ringsum: Es sind 250 hell erleuchtete Krankenstuben, in denen - wie vom Doktor verordnet - 250 Fieberthermometer in die dafür vorgesehenen Körperhöhlen geschoben werden, sobald es zehn schlägt.
Der Dreiakter "Knock oder der Triumph der Medizin" feierte 1923 in Paris eine rauschende Premiere. In den folgenden vier Jahren wurde das Stück des französischen Schriftstellers Jules Romains 1300-mal aufgeführt, später mehrfach verfilmt, und es wird bis heute an Schulen gezeigt. Das Theater des Doktor Knock ist nicht totzukriegen - seine bühnenreife Medizin wird im echten Leben fortgeschrieben. Sie handelt davon, wie gesunde Menschen in Patienten verwandelt werden.
An die Stelle des verführerischen Dorfarztes jedoch ist eine ungleich größere Macht getreten, den Menschen die Gesundheit auszutreiben: die moderne Medizin. Ärzteverbände und Pharma-Firmen, häufig von Patientengruppen unterstützt, predigen eingangs des neuen Jahrhunderts eine Heilkunst, die keine gesunden Menschen mehr kennt.
Um das enorme Wachstum der früheren Jahre beibehalten zu können, muss die Medizinindustrie immer häufiger auch Gesunde medizinisch traktieren. Global operierende Pharma-Konzerne und international vernetzte Ärzteverbände definieren die Gesundheit neu: Natürliche Wechselfälle des Lebens, geringfügig vom Normalen abweichende Eigenschaften oder Verhaltensweisen werden systematisch als krankhaft umgedeutet. Pharmazeutische Unternehmen sponsern die Erfindung ganzer Krankheitsbilder und schaffen ihren Produkten auf diese Weise neue Märkte.
Der Begriff "Sisi-Syndrom" beispielsweise tauchte 1998 erstmals auf: in einer einseitigen Werbeanzeige des Unternehmens SmithKline Beecham. Die betroffenen Patienten sind dem Konzern zufolge depressiv und gegebenenfalls mit Psychopharmaka zu behandeln. Allerdings überspielten sie ihre krankhafte Niedergeschlagenheit, indem sie sich als besonders aktiv und lebensbejahend gäben. Das Syndrom werde nach der österreichischen Kaiserin Elisabeth ("Sisi") benannt, da sie den Patiententypus wie ein Urbild verkörpere. Seither hat das Schlagwort die Medien erobert und wird von Psychiatern propagiert: Inzwischen wird die Zahl der am Sisi-Syndrom erkrankten Deutschen bereits auf drei Millionen geschätzt.
Der Psychiater Markus Burgmer, 35, und Kollegen des Uniklinikums Münster entlarvten das Volksleiden kürzlich als Erfindung der Industrie. Ihre Auswertung der Fachliteratur hat offenbart, dass das Krankheitsbild als "wissenschaftlich nicht begründet" anzusehen ist. Die Medienpräsenz des Sisi-Syndroms, darunter ein lanciertes Sachbuch zum Thema, gehe vielmehr zurück auf Wedopress, eine PR-Firma in Oberursel, die von dem Pillenhersteller beauftragt worden war.
Wedopress selbst rühmt sich heute, für die "Einführung einer 'neuen' Depression" ein "Trommelfeuer" in den Medien ausgelöst zu haben. Das Fazit der PR-Agentur lautet: "Das Sisi-Syndrom ist etabliert als besondere Ausprägung der Depression, akzeptiert von Medizinern und Patienten."
Die Firmen Jenapharm und Dr. Kade/ Besins Pharma wiederum versuchen gegenwärtig, eine Krankheit bekannt zu machen, die angeblich Millionen von Männern im besten Alter heimsucht: das Aging Male Syndrome - die Menopause des Mannes. Die Unternehmen haben Meinungsforschungsinstitute, PR-Unternehmen, Werbeagenturen, Medizinprofessoren und Journalisten in Gang gesetzt, um die Wechseljahre des Mannes als ernst zu nehmende und weit verbreitete Erkrankung bekannt zu machen. Auf Pressekonferenzen wurde "der schleichende Verlust" der männlichen Hormonproduktion beklagt. Anlass für die Kampagne war die Marktreife zweier Hormonpräparate, die seit Frühjahr 2003 in Deutschland zu kriegen sind.
"Es ist schlau und auch ein bisschen gemein, Leute davon zu überzeugen, dass sie etwas haben, von dem sie bisher gar nicht wussten, dass es existiert", sagt Jacques Leibowitch, Arzt im Krankenhaus Raymond Poincaré nahe Paris.
Die Ausweitung der Diagnosen in den Industriestaaten hat ein groteskes Ausmaß angenommen. Etwa 30 000 verschiedene Seuchen und Syndrome, Störungen und Krankheiten wollen Ärzte beim Homo Sapiens ausgemacht haben. Für jede Krankheit gibt es eine Pille - und immer häufiger für jede neue Pille auch eine neue Krankheit. Im Englischen hat das Phänomen schon einen Namen bekommen: "disease mongering" - das Handeln mit Krankheiten.
Krankheitserfinder verdienen ihr Geld an gesunden Menschen, denen sie einreden, sie wären krank. Ob soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel, larvierte Depression, Übergewicht, Menopause, Prä-Hypertonie, Weichteilrheumatismus, Reizdarmsyndrom oder erektile Dysfunktion - medizinische Fachgesellschaften, Patientenverbände und Pharma-Firmen machen in nicht enden wollenden Medienkampagnen die Öffentlichkeit auf Störungen aufmerksam, die angeblich gravierend sind und viel zu selten behandelt werden.
Im Ruhrgebiet sind "zwei Drittel der über 45-Jährigen infarktgefährdet", berichtet die "Ärzte Zeitung". Mehr als drei Millionen Bundesbürger leiden am chronischen Erschöpfungssyndrom (Chronic Fatigue Syndrome), behauptet die in Düsseldorf erscheinende "Medical Press" - und fügt verschämt hinzu: "ohne Gewähr". Die Gesellschaft für Ernährungsmedizin und Diätetik in Aachen geht noch weiter: "Die in Deutschland lebenden Menschen sind alle von einem Vitaminmangel betroffen", verkündet sie schlicht.
Jeder fünfte Familienvater, sonst immer zuverlässig und geduldig mit den Kindern, erkranke einmal im Leben am soeben entdeckten "Käfig-Tiger-Syndrom", beteuern der münstersche Professor für Allgemeinmedizin Klaus Wahle und die PR-Firma Medical Consulting Group. Auf Grund bislang unerkannter, spezifischer Verstimmungen könnten die Papas "sich nicht mehr gut entscheiden, hadern ununterbrochen mit allem und jedem. Wie ein eingesperrter Tiger im Käfig". In solchen Fällen könnten Psychopharmaka und Extrakte aus Johanniskraut "für einen wieder ausgeglichenen Haushalt der Botenstoffe" im väterlichen Hirn sorgen.
51 Prozent im Volke leiden unter "Refluxsymptomen mit Beeinträchtigung der Lebensqualität", verkündet eine Allgemeinärztin aus dem bayerischen Rödental - sie meint Sodbrennen. Genau 822 595 Menschen mit Hyperhidrose will die private Kölner Klinik am Ring in Deutschland gezählt haben: Die Betroffenen schwitzen - angeblich so stark, dass sie medizinischer Hilfe bedürfen.
Auch deutsche Rentner auf Mallorca sind reif für den Inseldoktor: Trotz - oder vielleicht gerade wegen - schönster äußerer Umstände mache ihnen die "Paradies-Depression" zu schaffen. Dieses Leiden will der im sonnigen Spanien praktizierende Psychotherapeut Eckhard Neumann beobachtet haben.
Ähnlich bedrohlich mutet die "Leisure Sickness" an, die pathologische Unfähigkeit zum Müßiggang. Ad Vingerhoets von der Universität im niederländischen Tilburg meint, drei Prozent der Bevölkerung würden durch Freizeit krank. Die Symptome reichen von Müdigkeit über Kopf- und Gliederschmerzen bis zu Erbrechen und Depressionen. Ferienorte sind zu meiden, weil die Seuche dort besonders heftig grassiert.
Selbst die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht wird von den Ärzten wie ein körperliches Leiden behandelt. Firmen wenden sich an die Mädchen, beispielsweise in kostenlosen Zeitschriften, die beim Frauenarzt ausliegen. "Fragen Sie bei der Terminvergabe nach der Teenie-Sprechstunde", rät das Blättchen "Women's Health", das laut Impressum mit "exklusiver Unterstützung der Grünenthal GmbH" erscheint. Im Editorial heißt es: "Der Gynäkologe wird zum Begleiter in allen Lebensphasen, und nicht selten legt er mit seinen Patientinnen eine Lebensstrecke gemeinsam zurück - von jungen Jahren bis ins Alter."
Sämtliche Umbruchphasen im Leben einer Frau sind längst in medizinische Probleme umdefiniert: Die meisten werdenden Mütter in Deutschland gelten als risikoschwanger, und die Zahl der Kaiserschnitte auf Wunsch steigt. Jedes Jahr werden rund 160 000 Gebärmütter entfernt - wobei Experten zufolge mindestens 60 000 dieser Eingriffe überflüssig sind. Die Tage vor der Regelblutung ("prämenstruelles Syndrom") und natürlich die Wechseljahre wurden medikalisiert: Jede vierte Frau über 40 schluckt in Deutschland Östrogenpräparate, obwohl ein Nutzen wissenschaftlich nicht erbracht werden kann.
Ist eine erfundene Krankheit erst einmal im öffentlichen Bewusstsein angekommen, zahlen Patienten und Krankenkassen wie selbstverständlich für die entsprechenden Medikamente und Therapien. Auch die aktuelle Reform des Gesundheitswesens versäumt es, mit dem Erfinden von Krankheiten aufzuräumen - einer legal abgesicherten Ausbeutung der Sozialversicherung, aber auch leichtgläubiger Selbstzahler steht nichts im Weg.
Während die ausufernden Kosten das Gesundheitssystem überfordern, laufen die Geschäfte der Pharma-Industrie glänzend. Im allgemeinen Krisenjahr 2002 wuchsen die Gewinne der zehn größten Pharma-Unternehmen abermals um ansehnliche 13 Prozent. Für das Marketing gibt die reiche Branche mehr Geld aus als für die Forschung. Ein Drittel der Erlöse und ein Drittel des Personals setzt Big Pharma ein, um Arzneimittel auf dem Markt zu platzieren.
Zug um Zug werden dabei Krankheiten aufgebauscht oder schlicht ausgedacht. "Die Marketingleute jazzen das immer hoch. Das ist doch der natürliche Enthusiasmus", erklärte Fred Nadjarian, Geschäftsführer der Firma Roche in Australien gegenüber dem "British Medical Journal". Ende der neunziger Jahre wollte Roche sein Antidepressivum Aurorix vermarkten, das gegen die soziale Phobie helfen soll, eine vorgeblich krankhafte Form der Schüchternheit. Eine von Roche gesponserte Pressemitteilung behauptete, mehr als eine Million Australier litten unter dem "die Seele zerstörenden" Syndrom, das mit Verhaltenstherapie und Arzneimitteln zu behandeln sei.
Angesichts des großen Marktes rieb sich Nadjarian schon die Hände - doch dann bekamen er und seine Leute nicht einmal genügend Testpersonen für die klinischen Studien zusammen. Die soziale Phobie war weit seltener, als die Roche-Mitarbeiter zunächst sich selbst und anschließend der Öffentlichkeit eingeredet hatten. Diese Pleite offenbare ein Problem der Pharma-Branche, räumt Nadjarian ein - nämlich den Hang zur Übertreibung. "Wenn Sie die ganzen Statistiken zusammenzählen", so der Manager, "dann müsste ein jeder von uns ungefähr 20 Krankheiten haben. Viele dieser Sachen werden völlig übertrieben dargestellt."
An dieser Masche stören sich etliche Ärzte. Hermann Füeßl vom Bezirkskrankenhaus Haar etwa beklagt in dem Fachblatt "MMW": Die Verbreitung "von Problemen wird durch epidemiologisch fragwürdige Untersuchungen ins Gigantische gesteigert, um dem Betroffenen aufzuzeigen, dass er sich in 'bester Gesellschaft' befindet".
Ärzte, besonders die Spezialisten, erreichen einen besseren Status, gewinnen an Einfluss und verdienen mehr Geld, wenn ein neues Territorium für die Medizin erobert wird. Professoren deutscher Universitäten steigen wie selbstverständlich als Meinungsbildner für die Pharma-Industrie in den Ring. Diese "Mietmäuler" (Branchenspott) streichen für einen Vortrag oder einen Auftritt auf einer Pressekonferenz Honorare in Höhe von 3000 bis 4000 Euro ein und machen offen Werbung für die entsprechenden Krankheiten und die dazu passenden Produkte.
"Wenn es keine Krankheit gibt, dann gehen die Pharma-Firmen pleite", sagt Carlos Sonnenschein, Hormonexperte an der Tufts University in Boston. "Die Tragödie der Wissenschaft liegt darin, dass Mediziner bereit sind, ihre Expertise zu verkaufen, um den Interessen der pharmazeutischen Firmen zu dienen."
Ausgerechnet medizinische Gesellschaften sind vielfach eine enge Liaison mit der Industrie eingegangen. Martina Dören, Professorin für Frauengesundheit an der Freien Universität in Berlin, kritisiert: "Durch die in aller Regel dünne, auf Mitgliederbeiträgen beruhende finanzielle Ausstattung wissenschaftlicher Fachgesellschaften hat es sich leider etabliert, dass Kongresse ohne substanzielle finanzielle Unterstützung pharmazeutischer Firmen nicht mehr existieren können."
Die allermeisten Daten zur Volksgesundheit werden im Auftrag von privaten Unternehmen und Kliniken erhoben und von Public-Relations-Agenturen an die Medien geliefert. Die Zahlen beruhen bestenfalls auf Stichproben und werden hochgerechnet auf das ganze Volk. Häufig genug aber geht die behauptete Verbreitung einer Krankheit nur zurück auf beliebige Schätzungen.
Kein Misstrauen regte sich, als der Psychologe Alexander Dröschel aus Saarlouis im vorigen Jahr gegenüber der Deutschen Presse-Agentur verkündete, zwischen Stralsund und Konstanz litten rund eine Million Kinder an einer psychiatrischen Krankheit, dem Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS). Seine Aussage wurde in ganz Deutschland verbreitet, eine konkrete Quelle dafür vermochte Dröschel nicht anzugeben: "Es kursieren die unterschiedlichsten Zahlen. Da habe ich eine aus dem mittleren Bereich herausgegriffen." An Dröschels öffentlicher Spekulation finden einschlägige Pharma-Firmen Gefallen: Sie halten Psychopillen für zappelige Kinder bereit, damit diese in Familie und Schule besser funktionieren, als die Natur sie geschaffen hat. Aggressiv buhlen sie um die jungen Patienten.
Die Firma Novartis mit Sitz in Nürnberg hat sogar ein Bilderbuch zum Thema ADHS herausgebracht. Das Pharma-Märchen erzählt die Geschichte des Kraken Hippihopp, der "fürchterlich ausgeschimpft" wird, weil er "überall und nirgends ist" und ihm viele Missgeschicke passieren. Glücklicherweise erkennt Doktorin Schildkröte, was Hippihopp hat: "ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom"! Und sie weiß auch, was er braucht: "eine kleine weiße Tablette".
Zu den Firmen, die sich den Markt selbst erfinden, gehört das Jenaer Unternehmen Biolitec. "Neuer Trend in der kosmetischen Chirurgie - erfolgreicher Einsatz von Biolitec-Lasern bei Vagina-Verjüngung" meldete die Firma vor einem Jahr. Es seien "bereits erste Kliniken in Deutschland und Österreich dazu in der Lage, die Form der Vagina entscheidend zu verbessern und ein jugendliches Aussehen wiederherzustellen, so dass unter anderem auch das Lustempfinden der behandelten Frauen deutlich gesteigert werden kann".
Für den behaupteten Zuwachs an Designerscheiden fehlte freilich jeder Beleg. Auf die Nachfrage, welche Ärzte denn Vaginen per Laser aufhübschten, nannte die beauftragte PR-Firma, die Financial Relations AG in Frankfurt am Main, zwar die Telefonnummern zweier Schönheitskliniken in Bad Reichenhall und Heidelberg. Wie sich herausstellte, konnte sich jedoch in beiden Häusern niemand erinnern, Scheiden verschönert zu haben. Die PR-Firma wollte dennoch nicht von ihrer Aussage abrücken und trieb nach vielen Tagen einen Chirurgen auf, der in Wien praktizierte. Der Mann habe "Erfahrung mit kosmetischer Schamlippenkorrektur und bestätigt den Trend".
Der Handel mit Krankheiten kennt fünf Spielarten, wie sie der australische Kritiker Ray Moynihan und zwei Ärzte beschrieben haben:
- Normale Prozesse des Lebens werden als medizinisches Problem verkauft. Nachdem beispielsweise die Firma Merck & Co. ein Mittel gegen Haarausfall entdeckt hatte, startete die globale PR-Agentur Edelman eine Kampagne. Sie fütterte Journalisten mit Studien: Ein Drittel aller Männer habe mit Haarausfall zu kämpfen. Zudem habe man herausbekommen, dass der Verlust des Kopfhaares zu Panik sowie emotionalen Schwierigkeiten führe und die Aussichten verringere, im Bewerbungsgespräch einen Job zu bekommen. Was man nicht erfuhr: Die Studie wurde von Merck & Co. gesponsert, und die medizinischen Experten, die den Journalisten die Zitate diktierten, hatte Edelman aufgetan.
- Seltene Symptome werden als grassierende Krankheiten dargestellt. Seit der Einführung der Potenzpille Viagra breitet sich die Impotenz erstaunlich aus. Auf einer Internet-Seite des Viagra-Herstellers Pfizer heißt es: "Erektionsstörungen sind eine ernst zu nehmende und häufige Gesundheitsstörung: Ungefähr 50 Prozent der Männer zwischen dem 40. und 70. Lebensjahr sind davon betroffen." Der Hamburger Urologe Hartmut Porst, einer der führenden Potenzforscher in der Welt, hält diese pauschale Aussage für heillos übertrieben: "Völliger Unfug."
- Persönliche und soziale Probleme werden in medizinische Probleme umgemünzt. In der Nervenheilkunde gelingt die Umwandlung der Gesunden in Kranke besonders gut, zumal "es keinen Mangel an Theorien gibt, nach denen fast alle Menschen nicht gesund sind", wie der Hamburger Arzt Klaus Dörner spottet. Entsprechend rasant hat sich die Zahl der seelischen Leiden in den offiziellen "Klassifikationssystemen" vermehrt. Im Katalog der amerikanischen Veteran's Administration waren nach dem Zweiten Weltkrieg gerade einmal 26 Störungen notiert. Das jetzt gültige "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders" (DSM-IV) der Vereinigung der amerikanischen Psychiater zählt 395 verschiedene Leiden auf.
- Risiken werden als Krankheit verkauft. Indem Normwerte für Messgrößen wie Cholesterin und Knochendichte herabgesetzt werden, wächst der Kreis der Kranken. Das Jonglieren mit Risikofaktoren wird in den nächsten Jahren eine ungekannte Beschleunigung erfahren: durch die kürzlich abgeschlossene Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Fast im Wochentakt werden inzwischen Gene entdeckt, die Krankheiten im späteren Leben auslösen oder begünstigen; darunter womöglich künftig auch "Krankheitsgene", die angeblich zu sozial unerwünschtem Verhalten beitragen. Für die Ethiker Jacinta Kerin und Julian Savulescu wird die Auffassung von Gesundheit dadurch entscheidend verändert: "In diesem Sinne wird die Genetik uns die Sichtweise ermöglichen, dass wir alle in irgendeiner Hinsicht 'krank' sind."
- Leichte Symptome werden zu Vorboten schwerer Leiden aufgebauscht. Das Reizdarmsyndrom etwa geht mit einer Fülle von Symptomen einher, die jeder schon einmal gespürt hat und die viele als normales Rumoren im Darm ansehen: Schmerzen, Durchfall und Blähungen. Die diffusen Beschwerden treten vor allem bei Frauen auf und wurden bisher den psychosomatischen Erkrankungen zugerechnet.
Erst mit der Verfügbarkeit einer Arznei erwachte das Interesse der Industrie an der angeblichen Krankheit. Was in solch einer Phase in der abgeschotteten Pharma-Welt abläuft, dringt nur selten nach außen. Umso aufschlussreicher ist jenes vertrauliche Papier, dessen Inhalt voriges Jahr im "British Medical Journal" veröffentlicht wurde.
Es handelt sich um einen geheimen Strategieentwurf der PR-Firma In Vivo Communications. Ein auf drei Jahre angelegtes "medizinisches Erziehungsprogramm" sollte demnach den Reizdarm vom Ruch der psychosomatischen Störung befreien und als "glaubhafte, häufige und richtige Krankheit" darstellen.
In dem Konzept der PR-Leute ging es um das Marketing für das Medikament Alosetron (in den USA: Lotronex) des Konzerns GlaxoSmithKline in Australien. Das erklärte Ziel des Schulungsprogramms: "Das Reizdarmsyndrom muss in den Köpfen der Doktoren als bedeutsamer und eigenständiger Krankheitszustand verankert werden." Auch die Patienten "müssen überzeugt werden, dass das Reizdarmsyndrom eine weit verbreitete und anerkannte medizinische Störung ist".
Um skeptische Hausärzte zu überzeugen, empfiehlt In Vivo Communications die Veröffentlichung von Artikeln in führenden Medizinzeitschriften, wobei Interviews mit den Meinungsbildnern besonders wichtig seien. Deren Auftritt sei "von unschätzbarem Wert", um die Informationen "klinisch gültig" erscheinen zu lassen.
Auch Apotheker, Krankenschwestern, Patienten und eine medizinische Vereinigung sollten mit Werbematerial eingedeckt werden. Ein "Programm zur Patientenunterstützung" schließlich solle sicherstellen, dass die Herstellerfirma bei den Verbrauchern "die Dividende der Treue einstreichen kann, wenn das Medikament des Konkurrenten auf den Markt kommt".
Die größte Phantasie beim Ersinnen neuer Krankheiten legen zweifellos die Psychiater an den Tag. Seuchenhaft breiten sich Wahn und Irrsinn in Deutschland aus, was nicht nur den Stand der Nervenärzte und der Psychotherapeuten in Lohn und Brot hält, sondern auch pharmazeutischen Firmen glänzende Geschäftsbilanzen beschert. Die Aufklärungsfeldzüge der Industrie zielen auf milde seelische Beeinträchtigungen, die einen großen Personenkreis betreffen könnten. Aufmüpfigen Kindern beispielsweise wird dann ein Leiden namens "oppositionelles Trotzverhalten" attestiert.
Auch die Aufnahme der "prämenstruellen Dysphorie" in die Hitliste der Seelenleiden hat die Klientel der Psychiater merklich vermehrt; nun dürfen sie das angeblich weit verbreitete Frauenleiden behandeln - gegebenenfalls mit Psychopharmaka. Für diesen Markt hat die Firma Eli Lilly ein altbekanntes Produkt recycelt. Nachdem das Patent für den Pillenbestseller Prozac abgelaufen war, vermarktet das Unternehmen dieselbe Substanz nunmehr unter dem Namen Sarafem: als Pille gegen das schwere prämenstruelle Syndrom. Die Psychiater treten auf diese Weise in Konkurrenz zu Frauenärzten - die doktern mit Hormonpräparaten am gleichen Phänomen herum.
Finanzielle Verbindungen gerade zwischen Psychiatern und Pharma-Firmen sind in Deutschland gang und gäbe. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) beispielsweise lässt sich von Unternehmen wie Astra Zeneca, Aventis Pharma Deutschland, Lilly, Novartis Pharma und Organon "unterstützen". Die von Firmen gesponserten "Presse-Infos" weisen die Öffentlichkeit auf immer neue Psycho-Leiden hin. So war im September 2002 zu lesen: "Depressionen, Angsterkrankungen, Süchte - so heißen die neuen Zivilisationskrankheiten."
Das kommt manchen Nervenärzten merkwürdig vor. "Die Methoden zur Vermarktung von Informationen haben sich bis zu dem Punkt entwickelt, an dem die Denkart der Ärzte und der Öffentlichkeit innerhalb weniger Jahre bedeutsam verändert werden kann", urteilt der britische Psychiater David Healy. "Dass die Verbreitung von Störungen um das Tausendfache steigt, scheint die Ärzte und die Öffentlichkeit nicht zu überraschen."
Viele der "neuen Leiden der Seele", wie sie der Baseler Psychiater Asmus Finzen nennt, sind indessen nichts anderes als Wechselfälle des normalen Lebens. Eigenbrötelei wird aufgebauscht zur "antisozialen Persönlichkeit". Die natürliche Trauer hat ebenfalls Eingang in die Psychiatrie gefunden: als "Anpassungsstörung".
Für das Heer der angeblichen Psycho-Patienten hält die Industrie eine reichhaltige Auswahl an Medikamenten bereit. Antidepressiva, vor allem die selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI), von denen Prozac das bekannteste Beispiel ist, sind zu Modedrogen gegen Schwermut, Traurigsein und Angst geworden. Die Prozac-Kapseln (in Deutschland als Fluctin auf dem Markt) erhöhen die Menge des Serotonins im Gehirn und heben auf diese Weise die Stimmung. Serotonin ist ein wichtiger Botenstoff im Gehirn, der Gefühle wie Stolz und Selbstwertgefühl beeinflusst.
Ursprünglich für die Behandlung schwerer Depressionen gedacht, werden SSRI in den westlichen Ländern heute gegen einen bunten Strauß von Störungen verschrieben, die es vor Jahren noch gar nicht gab: generalisierte Angststörung, Panikstörung, Zwangsstörung etwa oder akute Stressstörung. Der amerikanische Verbraucherschützer Arthur Levin sagt: "Die Symptome sind so breit und vage, dass beinahe jeder sagen könnte: Mensch, das bin ja ich!"
Seitdem klar ist, dass SSRI und andere Pharmaka bestimmte Facetten des menschlichen Verhaltens verändern, werden diese Züge und Stimmungen systematisch medikalisiert. Vor allem die "Angst" hat Begehrlichkeiten der Pillenhersteller geweckt. Anfang 2002 arbeiteten sich 27 verschiedene Substanzen durch die Entwicklungspipelines der Industrie, die allesamt als Mittel gegen Angststörungen vermarktet werden sollen.
Gern werden Syndrome erfunden, die sich an bereits anerkannte Krankheiten anlehnen. Im Dunstkreis der Depression wollen Ärzte und Industrie beispielsweise einen Zustand ausgemacht haben, den sie "Dysthymie" nennen. "Müde, niedergeschlagen, voller Selbstzweifel - wer hat nicht manchmal Phasen, in denen die ganze Welt grau in grau erscheint?", fragt die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde und behauptet: Für bis zu 3,3 Millionen Deutsche sei die eingetrübte Gefühlswelt ein Dauerzustand und werde "viel zu selten als Krankheitsbild erkannt und entsprechend behandelt". Der Volksmund ruft den Dysthymie-Patienten bei seinem angestammten Namen: Miesepeter.
"Manche Psychiater treiben ihre Diagnosen in der Tat so weit, dass am Ende wir alle etwas haben", sagt Psychiater Finzen, der die Angaben zur Verbreitung der seelischen Krankheiten aus dem Katalog DSM-IV einmal addiert hat: Demnach leiden zu jedem beliebigen Zeitpunkt 58 Prozent der Bevölkerung an irgendeiner Form von Persönlichkeitsstörung - es ist also normal, psychisch krank zu sein.
Kaum besser ist es um den Körper bestellt. Beim Cholesterin etwa hat man vor einigen Jahren in Deutschland die Grenzwerte so definiert, dass Menschen mit "normalen" Werten in der Minderheit sind, jene mit "unnormalen" Werten dagegen die Mehrheit stellen.
Wie kann das sein? Eine umfassende Studie an 100 000 Menschen in Bayern hat einen Durchschnittswert von 260 Milligramm pro Deziliter Blut ergeben. Die Nationale Cholesterin-Initiative, ein privater Interessenverbund von 13 Medizinprofessoren, schlug im Jahr 1990 dennoch einen Grenzwert von nur 200 vor und konnte ihn tatsächlich durchsetzen.
Die Mediziner der Cholesterin-Initiative repräsentierten Lobbyverbände, darunter die industrienahe Deutsche Liga zur Bekämpfung des hohen Blutdrucks und die Lipid-Liga sowie die Deutsche Gesellschaft für Laboratoriumsmedizin. In einem "Strategie-Papier" forderten sie eine aggressive Ausweitung der Diagnose: "Jeder Arzt sollte den Cholesterinwert seines Patienten kennen."
Durch das Dekret finanziell interessierter Mediziner wurde die Mehrheit der Deutschen zu Risikopatienten erklärt. In der Gruppe der 30- bis 39-Jährigen haben dem willkürlichen Grenzwert zufolge 68 Prozent der Männer und 56 Prozent der Frauen einen erhöhten Cholesterinwert. Bei den 50- bis 59-Jährigen sind gar 84 Prozent der Männer und 93 Prozent der Frauen betroffen.
Die Beschäftigung mit dem Cholesterinwert ist heute ein weit verbreiteter Zeitvertreib, an dem Ärzte und Firmen Beträge in Milliardenhöhe verdienen. Der Bundesverband Niedergelassener Kardiologen, die Firma Unilever (Margarine "Becel"), der Pharma-Konzern Pfizer und das Unternehmen Roche Diagnostics betreiben regelmäßig "Gesundheitsinitiativen" mit dem Ziel, Menschen dazu zu bringen, ihren Cholesterinwert testen zu lassen.
In einer Broschüre, die in Apotheken ausliegt, heißt es: "Ab dem 30. Lebensjahr sollte jeder seinen Cholesterinspiegel kennen und alle zwei Jahre kontrollieren lassen." Ein erhöhter Cholesterinspiegel sei "einer der wichtigsten Risikofaktoren" für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die "Neue Apotheken Illustrierte" bezeichnet Cholesterin als "Zeitbombe für die Gesundheit".
Dabei ist die wachsartige Substanz ein lebenswichtiger Bestandteil des Körpers und wird beispielsweise vom Gehirn in großen Mengen benötigt: Das Denkorgan enthält besonders viel Cholesterin. Die meisten Körperzellen können es selbst herstellen, wenn es in der Nahrung fehlt. Zum Glück - denn ohne das so verteufelte Molekül würden die Zellen zu Grunde gehen.
Und doch denken viele Menschen voller Furcht an den frühen Herztod, sobald sie das Wort Cholesterin nur hören. Es vergällt vielen das Frühstücksei und die Butter auf dem Brötchen und lässt sie nur noch mit Unbehagen in die Wurst beißen.
Getrieben vom schlechten Gewissen, ließen allein im Jahr 2001 mehr als eine Million Bundesbürger im Rahmen der "Gesundheitsinitiative" ihren Cholesterinspiegel messen. Wie nicht anders zu erwarten, lagen mehr als die Hälfte der Getesteten über dem willkürlich festgelegten Grenzwert von 200 - sehr erfreulich für die beteiligten Ärzte und Firmen: Roche Diagnostics stellt Geräte zum Cholesterinmessen her; die Kardiologen bekommen neue Patienten, denen sie den Verzehr von Butter ausreden - was wiederum der Margarinemarke Becel hilft; Pfizer schließlich setzt weltweit Milliarden Euro mit Medikamenten um, die den Cholesterinspiegel senken.
Der in den volkserzieherischen Großprogrammen erweckte Eindruck, die Cholesterintheorie sei eine gesicherte Erkenntnis der Medizin, täuscht. Viele Ärzte haben erheblichen Zweifel daran, ob das Cholesterin tatsächlich die Schurkenrolle spielt, die ihm im Drama Herzinfarkt zugewiesen wird. Schon als 1990 in Deutschland der zweifelhafte Grenzwert von 200 ausgerufen wurde, gingen Experten wie der Kardiologe Harald Klepzig von der Deutschen Herzstiftung in Frankfurt am Main auf Distanz. Inmitten der Cholesterinhysterie sagte er: "Wir wären glücklich, wenn eine einzige medizinische, kontrollierte Studie vorgelegt werden könnte, die zeigen würde, dass Menschenleben durch die Senkung von Cholesterin gerettet werden. Es fällt dagegen nicht schwer, zehn Studien herauszusuchen, die zeigen, dass eine Senkung des Fettes eher sogar mit einer höheren Sterblichkeit einhergeht."
Und Paul Rosch, Präsident des American Institute of Stress und Medizinprofessor am New York Medical College, kommentiert: "Die Gehirnwäsche der Öffentlichkeit hat so gut funktioniert, dass viele Leute glauben, je niedriger ihr Cholesterinwert sei, desto gesünder seien sie oder desto länger würden sie leben. Nichts ist weniger wahr als das."
Tatsächlich stützt sich die Behauptung vom bösen Cholesterin keineswegs auf Beweise, sondern nur auf Indizien - und von denen halten viele einer Überprüfung nicht stand. So veröffentlichte der Forscher Ancel Keys von der University of Minnesota im Jahr 1953 einen Artikel, der zum Gründungsmythos der Cholesterintheorie werden sollte. In seinem Aufsatz zeigte er ein Diagramm, das eine klare Beziehung zwischen dem Verzehr von Fett und der Sterblichkeit durch koronare Herzkrankheiten in sechs Ländern suggeriert.
"Die Kurve lässt kaum einen Zweifel am Zusammenhang zwischen dem Fettgehalt der Nahrung und dem Risiko, an koronarer Herzkrankheit zu sterben", kommentierte damals die Medizinzeitschrift "Lancet". So beeindruckend die Kurve verläuft - sie hat einen gewaltigen Schönheitsfehler: Keys hatte nur Daten aus 6 Ländern berücksichtigt - obwohl Zahlen aus insgesamt 22 Staaten vorlagen.
Wenn Keys "alle Länder einbezogen hätte, wäre nichts aus der schönen Kurve geworden", sagt der Arzt Uffe Ravnskov aus dem schwedischen Lund. "Die Sterblichkeit durch die koronare Herzkrankheit war in den USA beispielsweise dreimal höher als in Norwegen, obwohl in beiden Ländern annähernd gleich viel Fett verzehrt wurde."
Kritiker wie Ravnskov verneinen keinesfalls, dass ein Zusammenhang zwischen Blutfetten und Koronarerkrankungen besteht. So leiden etwa 0,2 Prozent der Bevölkerung an familiärer Hypercholesterinämie: Menschen mit dieser Erbkrankheit haben zu wenige intakte oder gänzlich defekte Cholesterinrezeptoren. Das Cholesterin kann deshalb kaum vom Blut in die Körperzellen transportiert werden, so dass der Cholesterinspiegel steigt. Die Werte liegen bei 350 bis 1000 Milligramm pro Deziliter. Die Betroffenen haben ein extrem hohes Risiko, früher als andere an Herzinfarkt zu sterben, weil sie häufig an einer schweren Form der Arteriosklerose erkranken.
Allerdings ist fraglich, ob dieses Leiden mit der echten Arteriosklerose vergleichbar ist. Autopsiestudien an Menschen, die an familiärer Hypercholesterinämie litten, haben gezeigt, dass sich das Cholesterin nicht nur in den Gefäßen ablagert, sondern überall im Körper. "Viele Organe sind regelrecht von Cholesterin durchdrungen", sagt Ravnskov. Deshalb ist es ein Irrtum, den Zusammenhang zwischen Cholesterin und Arteriosklerose auf Menschen mit normalem Cholesterinspiegel zu übertragen.
Wenn der Arzt alte "Risikopatienten" dazu drängt, auf cholesterinarme Lebensmittel umzustellen, so kann das für die Greise sogar gefährlich werden. Die Ernährung von Betagten sei "ohnehin schon durch Zahnprothesen, Verstopfung, Appetitmangel und Unverträglichkeit vieler Speisen beeinträchtigt", warnt der amerikanische Arzt Bernard Lown.
Der Herzspezialist und Buchautor hat selbst erlebt, wie eine hochbetagte Frau plötzlich abmagerte und verfiel, weil sie versuchte, ihren Cholesterin- und auch Blutzuckerspiegel zu senken. Lown setzte dem bedrohlichen Unfug ein Ende: "Ich empfahl ihr, alle diese ärztlichen Ratschläge zu ignorieren und zu essen, was immer ihr Spaß machte. Innerhalb von sechs Monaten gewann sie ihr ursprüngliches Gewicht und auch ihre vitale und positive Stimmung wieder zurück."
Die Diagnose sei eine der häufigsten Krankheiten, spottete schon der Wiener Satiriker Karl Kraus. Die Cholesterindebatte gibt ihm Recht - oder auch das Beispiel der Osteoporose: Einst wurde von einer solchen nur dann gesprochen, wenn das altersbedingte Schwinden der Knochenmasse tatsächlich zu einer Fraktur geführt hatte. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts wurde die Diagnose "Oberschenkelhalsbruch" im Jahr 1995 in Deutschland in insgesamt 74 803 Fällen bei Menschen über 74 Jahren gestellt. Das entspricht in dieser Altersgruppe einem relativen Anteil von 1,2 Prozent.
Diese Zahl, die in anderen Industriestaaten vergleichbar sein dürfte, reicht für das Etikett Volkskrankheit nicht aus - deshalb musste die Osteoporose völlig neu erfunden werden. Die Rorer Foundation sowie die Firmen Sandoz Pharmaceuticals und SmithKline Beecham sponserten 1993 ein Treffen einer Kommission der Weltgesundheitsorganisation (WHO), auf der genau dieser Schritt vollzogen wurde. Bereits "der allmähliche Abbau der Knochenmasse im Alter", so die heute gängige Definition, sei als Osteoporose anzusehen. Seither hat die Pharma-Industrie die Möglichkeit, so ein deutscher Arzt, "die Hälfte der Bevölkerung ab 40 Jahren bis ins hohe Alter mit Medikamenten zu versorgen".
Um das neu definierte Leiden überhaupt diagnostizieren zu können, bedarf es einer trickreichen Messung der Knochendichte, bei der sich die Ärzte zu Nutze machen, dass ein Knochen umso mehr Röntgenstrahlen abschwächt, je dichter er ist. Die Ergebnisse werden vom Computer ausgewertet und sodann mit der Knochendichte eines 30 Jahre alten gesunden Menschen verglichen.
Das Verfahren stellt bei beinahe jedem älteren Menschen eine verringerte Knochendichte fest - eben weil der Knochenschwund genauso Folge des Alterns ist wie etwa faltige Haut.
Um trotzdem von einem pathologischen Vorgang sprechen zu können, musste die WHO willkürliche Grenzwerte festsetzen. Eine Osteoporose liegt demnach vor, wenn die Knochenmasse ungefähr 20 bis 35 Prozent unterhalb des Normwertes liegt - oder mehr als 2,5 Standardabweichungen unter der Norm. Auf Geheiß der WHO sind im Jahre 1993 ganze Bevölkerungsschichten plötzlich erkrankt: 31 Prozent der Frauen zwischen 70 und 79 Jahren leiden einer schwedischen Studie zufolge seither an Osteoporose; von den Frauen über 80 gelten nun 36 Prozent als knochenkrank - selbst wenn sie sich in ihrem langen Leben noch nie etwas gebrochen haben.
Pharmazeutischen Unternehmen beschert die WHO-Definition Milliardenumsätze. Eine Studie aus den USA ergab: Jede zweite Frau über 45 Jahre, bei der die Knochendichtemessung eine Osteoporose anzeigt, lässt sich binnen eines halben Jahres mit einschlägigen Präparaten behandeln.
Eine wissenschaftliche Begründung für ihre Entscheidung blieben die WHO-Experten schuldig. Als der deutsche Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen bei der WHO vor drei Jahren nachfragte, auf welchen Studienergebnissen der Beschluss fußt, wollte oder konnte der zuständige Mitarbeiter keine Quellen benennen.
Das ist kein Wunder: Der Nutzen der Knochendichtemessung für beschwerdefreie Patientinnen ist nicht belegt. Zu diesem Schluss kamen - unabhängig voneinander - deutsche, amerikanische und schwedische Studien. Die Experten des Büros für Technikfolgenabschätzung der University of British Columbia im kanadischen Vancouver haben einen 174 Seiten umfassenden Bericht zu der Frage vorgelegt, ob das Diagnostizieren überhaupt etwas bringt. Ihr Fazit ist eindeutig: Die wissenschaftliche Beweislage spreche "nicht dafür, dass das Messen der Knochendichte bei gesunden Frauen in oder nahe der Menopause geeignet ist, um Knochenbrüche in der Zukunft vorherzusagen".
Die Knochendichtemessung an beschwerdefreien Menschen wurde in Deutschland vor kurzem aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherer gestrichen.
Den Elan der Ärzte hat das nicht gebremst: Nunmehr hoffen sie, dass die älteren Menschen selbst für die nutzlose Diagnose blechen. Dazu verkaufen sie die Knochendichtemessung als "individuelle Gesundheitsleistung" (IGeL), die der Patient aus eigener Tasche bezahlen soll.
"Wer in der Praxis IGeLn will, braucht ein bisschen Gespür für die 'Kaufbereitschaft' und die richtige Situation", rät die medizinische Fachzeitschrift "MMW" ihren ärztlichen Lesern. Oft ergebe sich die Gelegenheit aus dem Gespräch: "Die Dame in den Wechseljahren mit ihren Osteoporose-Sorgen wird wahrscheinlich dankbar sein für den Hinweis ihres Arztes auf die Osteoporose-Diagnostik und -vorbeugung in der Praxis."
Die Medikalisierung des Lebens hält das britische Nuffield Council on Bioethics, ein elitärer Zirkel von 15 Philosophen, Ärzten und Wissenschaftlern, für einen neuen Megatrend. Der weltweit geachtete Think- Tank warnte voriges Jahr: "Eines der Probleme liegt in der diagnostischen Ausbreitung oder der Tendenz, dass Störungen so breit definiert werden, dass mehr und mehr Individuen im Netz der Diagnose gefangen werden."
Nicht nur die Gesetze des Markts fördern die Ausweitung der Medizin. Sie vollzieht sich auch deshalb so rasch, weil der Heilkunde seit Jahrzehnten kein Durchbruch gelungen ist. Wo aber Therapien gegen Geißeln wie Krebs fehlschlagen, wo lukrative Pharma-Patente ablaufen, wo wütende Forschungsanstrengungen (jeden Tag erscheinen etwa 5500 medizinische Artikel) keine Durchbrüche bringen, da wenden sich Mediziner und Pharma-Forscher den Gesunden zu.
Der im vorigen Jahr verstorbene Medizinhistoriker Roy Porter hielt die Medikalisierung des Lebens für ein strukturelles Problem der westlichen Gesundheitssysteme und Gesellschaften, weil in ihnen die bestmögliche medizinische Versorgung als Grundrecht gilt. Es entstehe "ein gewaltiger Druck - erzeugt von Medizinern, dem Geschäft mit der Medizin, Medien, aggressiv werbenden pharmazeutischen Unternehmen und pflichtbewussten (oder anfälligen) Einzelpersonen -, die Diagnose behandelbarer Krankheiten auszuweiten". Wie eine außer Kurs geratene Rakete schraubten sich Ängste und Eingriffe immer höher. Ärzte und Konsumenten erlägen zunehmend der Vorstellung, "dass jeder irgendetwas hat, dass jeder und alles behandelt werden kann".
Da hilft alles Leugnen nicht. Denn selbst wer sich der ausufernden Gesundheitsindustrie verweigert, offenbart damit nur, dass er ein Fall für sie ist: Etwa drei Prozent der Bundesbürger, so hat die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde entdeckt, gehen nur deshalb nicht zum Doktor, weil sie krank sind: Sie leiden unter der "Blut-, Verletzungs-, Arzt- oder Zahnarztphobie".
Jörg Blech, "Die Abschaffung der Gesundheit", Der Spiegel (33/2003), S. 116-126